O. Kühschelm: Zur Genealogie nationaler Ökonomien in Österreich und der Schweiz

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Title
Einkaufen als nationale Verpflichtung. Zur Genealogie nationaler Ökonomien in Österreich und der Schweiz, 1920–1980


Author(s)
Kühschelm, Oliver
Series
Werbung – Konsum – Geschichte
Published
Berlin 2022: De Gruyter Oldenbourg
Extent
636 S.
Price
€ 119,95
by
Daniel Speich Chassé, Historisches Seminar, Universität Luzern

Während der sechs Jahrzehnte, die in dieser gewichtigen Habilitationsschrift unter die Lupe genommen werden, gab es in allen Industriestaaten sogenannte «Buy-National»-Kampagnen. Mit dem Ende der ersten Globalisierung ab dem Ersten Weltkrieg versuchten patriotische Vereine, Gewerbeverbände, und auch staatliche Akteure in vielen Ländern in der einen oder anderen Form den wachsenden Nationalismus auch ins alltägliche Konsumverhalten zu tragen. Der Wiener Wirtschaftshistoriker Oliver Kühschelm konturiert dieses rückblickend singulär erscheinende Phänomen materialreich und quellennah am Beispiel Österreichs und der Schweiz. Sehr klar tritt dabei hervor, dass eine enge Verbindung von Wirtschaft und Nation bereits in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre angelegt war, die sich im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum als «Nationalökonomie» konturierte. Und die Verbindung bestand in der Zeit der «zweiten Globalisierung» ab den 1980er-Jahren weiter als kommunikative Programmatik. Diese war nun aber nicht mehr auf die inländischen Konsumierenden gerichtet, sondern zielte im Sinne des «Nation Branding» auf die Absatzsteigerung von Exportprodukten in ausländischen Märkten.

Kühschelm sucht nach «einem Hebel, um eine nationale Genealogie nationaler Ökonomien zu betreiben» (S. 1). Das ist eine verzwickte Formulierung, in der das Adjektiv «national» zweimal vorkommt und überdies zwischen den Wörtern «national» und «Ökonomie» ein bedeutungsreicher Leerschlag steht. Mit diesem Forschungsprogramm postuliert der Verfasser, es gäbe national unterschiedliche Genealogien der Problematisierungsweise von «nationaler Ökonomie». Es ist überzeugend, dass er bei diesem Erkenntnisinteresse mindestens zwei Fälle untersuchen musste. Als empirisches Substrat hätte auch die komparative Analyse aller «kleinen offenen Volkswirtschaften» dienen können, die seit Peter J. Katzensteins Arbeiten in den frühen 1980er-Jahren in der Wirtschaftsgeschichte eine gewisse Tradition hat. Aber Kühschelm zeigt auch auf, wie kompliziert und aufwändig der Nachweis des spezifisch «nationalen» in einem solchen genealogischen Projekt ist. Mehr als zwei Nationalökonomien in ihrer diskursiven Genese ausserhalb des klassischen nationalökonomischen Kanons im Rückgriff auf allerlei Quellengattungen und vor dem Hintergrund der allgemeinen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie der politischen Rupturen im Untersuchungszeitraum in einer lesbaren Weise zu rekonstruieren, wäre nur unter Nutzung rigider Theorieangebote durch die Volkswirtschaftslehre möglich gewesen. Doch auf diese verzichtet Kühschelm bewusst. Stattdessen rückt er auch die Forschungen führender Nationalökonomen aus der Schweiz und aus Österreich als Quellen in seinen Beobachtungshorizont ein und untersucht diese diskursive Konstruktion in ihrer Interaktion mit dem «hegemonialen Projekt, der propagandistischen Synthese, die ich als nationale Ökonomie bezeichne» (S. 205). Es geht ihm eben nicht um «Nationalökonomie», sondern um die politische Wirkung kollektiver Vorstellungen geschlossener Kreisläufe des Angebots und der Nachfrage. Die Studie hat die kliometrische Wirtschaftsgeschichte stets im Auge und bietet auch in einem kurzen Exkurs eine kluge Zusammenfassung dessen, was die wirtschaftsgeschichtliche Forschung zur Kaufkraft und zur Wirtschaftskonjunktur der beiden Länder in den 1930er-Jahren weiss (S. 116–130). Kühschelm fokussiert aber hauptsächlich auf eine Kulturgeschichte des Wirtschaftens im nationalen Rahmen.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Erstens geht es um Organisationen, Expertise, und Expertinnen bzw. Experten. Deren Zusammenkommen wird unter anderem am Beispiel der «Schweizerwoche» gezeigt. Dabei handelt es sich um eine privat getragene landesweite Aktion, bei der viele Detailhändler mit gehörigem Werbeaufwand einmal im Jahr die Verbindung von Nation und Volkswirtschaft gegenüber den Kundinnen und Kunden zu verdeutlichen versuchten, um ihren Absatz zu steigern. Entsprechende österreichische Pendants werden ausgeführt. Im zweiten Teil verfolgt der Autor die Inszenierung von nationalen Ökonomien. Mit Blick auf die Geschichte der Habsburgermonarchie findet hier ein Rückblick auf den Kameralismus des 18. Jahrhunderts Platz (S. 296–306). Der dritte Teil des Buches interessiert sich für die Medien nationaler Kommunikation und fragt danach, wie diese Botschaften bei ihrem Zielpublikum ankamen. Neben anderen Quellenstudien stellt Kühschelm hier die luzide Analyse einer österreichischen Schulaufsatzkampagne vor, die während der Jahre 1959–1981 junge Österreicherinnen und Österreicher dazu bewegen sollte, vor allem österreichische Waren zu kaufen.

Die Untersuchung ist originell. Denn bislang setzte die wirtschaftsgeschichtliche Forschung die Nation als weitgehend unhinterfragte Grösse voraus. Deutlich wird dies etwa in der Formulierung eines «Bruttonationaleinkommens» (BNE). Darin ist die «Nation» evident. Wichtige Eckdaten schienen durch die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung im Ausweis eines BNE statistisch evident und gaben Anlass zu vielerlei Folgeberechnungen. Aber dabei blieb die Frage unbeachtet, was eigentlich «Wirtschaft» heisst. Welche Tätigkeiten zwischen dem Haushalt und der Arbeit im Betrieb zählen? Die Makroökonomie tut sich bis heute damit schwer, dem methodischen Nationalismus in ihrem Wissensregime adäquat Rechnung zu tragen.

Kühschelm nimmt das Adjektiv «national» aus dieser Diktion heraus und baut mit ihm eine neue historische Fragestellung: Was hiess nationale Wirtschaft zwischen 1920 und 1980 im österreichischen und im schweizerischen Alltag? Wer konstruierte ein Bild des Wirtschaftslebens national und warum? Wie wurde dieses Konzept fern von den makroökonomischen Modellen wahrgenommen und staatspolitisch gefüllt? In vielen glänzenden Miniaturen zu einzelnen Text- und Bildquellen hat der Verfasser zahlreiche Fälle der staatlichen und privaten Bestrebungen in den zwei Beispielen rekonstruiert, die den konsumierenden Menschen ihr Wirtschaftsleben weit über ihre persönlichen Bedürfnisse hinaus als eine Tätigkeit vorstellten, die auch im staatspolitischen Rahmen der Nation sinnvoll sei. So wurde etwa 1949 in der Schweiz aufwändig kommuniziert: «Gleich einer Sturmflut wird unser kleines Land mit ausländischen Strümpfen überschwemmt» (S. 242). Frauen wurden angehalten, nicht die günstigen Kunststoffprodukte aus den USA zu erwerben, die von der Schweizer Industrie (noch) nicht angeboten werden konnten, sondern weiterhin auf die inländischen baumwollbasierten Unterkleider zu vertrauen.

Gut an dem zu besprechenden Buch ist, dass es die Relevanz der Wirtschaftsgeschichte deutlich macht, die im Zuge der kulturalistischen Wende an Bedeutung verloren hat. In Kühschelms Darstellung erscheint das Konzept der «Nationalökonomie» inhaltsreicher als es in der Volkswirtschaftslehre bisweilen vermittelt wird. Aber leider verliert sich die Argumentation in den Details der Geschichte. Es fehlt die klare Formulierung einer übergreifenden These. Auch bleibt unbeantwortet, ob die untersuchten Aktivitäten den nationalen Wohlstand effektiv gesteigert haben. Die Nation, die statistisch gefasste Volkswirtschaft, die Nationalökonomie: Das sind eingängige Komplexitätsreduktionen ohne welche es schwierig wird, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Dies (wenn auch contre-coeur) deutlich zu machen, ist die Stärke des anzuzeigenden Werks.

Zitierweise:
Speich Chassé, Daniel: Rezension zu: Kühschelm, Oliver: Einkaufen als nationale Verpflichtung. Zur Genealogie nationaler Ökonomien in Österreich und der Schweiz, 1920–1980, Berlin Gruyter 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 79-81. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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